Unser Ortsteil - Historisches
Castroper Hellweg
Bochum-Gerthe
liegt im äußersten Nordosten der Stadt und grenzt in nördlicher Richtung an
Herne und in östlicher an Castrop-Rauxel und Dortmund. Mit dem eigenen Angebot
an Grüngebieten und Feldern ist es somit zusätzlich eingebettet in die Grünzüge
des Gysenberg, des Ostbachtals und die Ausläufer der Stemke. Stratetisch liegt
in Gerthe der Schnittpunkt zweier bedeutender historischer Verkehrswege: Der
heutige Castroper Hellweg folgt dem
Verlauf einer alten Heerstraße der Römer, die in Höhe der ehemaligen Glückauf-Apotheke
mit der Hiltroper Landwehr eine
weitere Römerstraße kreuzt. Die Geschichte reicht jedoch noch weiter zurück
bis in die Jungsteinzeit, haben Archäologen doch Am Hillerberg wertvolle Relikte von Langhäusern aus der Rössnerkultur
ausgegraben, die im Heimatmuseum auf Schloß Strünkede in Herne auch in
Modellen besichtigt werden können. Zeugen der mittelalterlichen Vergangenheit
der Bauernschaft „Gerthrium" sind die Höfe Cöppen-Castrop, Schuth, Fleige, Schulte-Mausbeck und Oberhöffken (heute Gut Heckhausen), die bereits in den
Heberegistern des Klosters Werden im 11. Jh. benannt sind.
Die
Straßenbahnlinie 308/18 fährt streckenweise noch immer in der Spur der ersten
„Elektrischen", die erstmalig am 23. Dezember 1908 von Grumme über
Gerthe nach Harpen „tuckerte". Der Sitz der anno 1912 gegründeten
„Westfälischen Straßenbahn GmbH" war das Depot am Castroper Hellweg. Nördlich
der Straße, gegenüber der Heinrichstraße, liegt der ehemalige Festplatz von
Gerthe. In den 20er Jahren hatte der Gerther Bürgermeister Max Ibing diesen als
Ereignisort für Traditionsfeste wie Kirmes und Schützenfest im Eingangsbereich
zum Hiltroper Volkspark anlegen
lassen. Im Zweiten Weltkrieg befand sich hier ein Barackenlager für
Zwangsarbeiter der Zeche Lothringen und der Eisen- und Hüttenwerke AG. Während
nach dem Krieg hier Obdachlose und in den 50er Jahren Bauarbeiter untergebracht
waren, nutzen heute Landfahrer das unbebaute Terrain als Lagerstatt bis die
Bagger für die geplante Westumgehungstraße die Schneise bis zur Sodinger Straße
reißen.
Heinrichstraße
In der
Heinrichstraße finden sich als Zeugen des Bergbaus ehemalige Beamtenwohnhäuser,
gebaut 1927. Entgegen den typischen Bergarbeitersiedlungen, wie sie bis 1964
noch auf der anderen Straßenseite standen sie mussten dem Schulzentrum weichen
wie sie aber noch in der abzweigenden Schwerinstraße
und anderswo anzutreffen sind, fehlen die Stallgebäude zur Haltung von
Kleintieren, die es den Zechenarbeitern ermöglichten, den schmalen Lohn durch
Eigenversorgung zu verbessern. Im Zuge der Privatisierung und Modernisierung ist
leider viel von der ursprünglichen Siedlungsarchitektur verlorengegangen.
Weitere Beispiele mit teilweise behutsam restaurierten Zechenhäusern liegen an
der Klüsener, Schürener, Schürbank und Karl-Ernst-Straße. Die Straßennamen
bezogen sich auf verdiente Männer des Lothringenkonzerns, etwa die Heinrichstraße
auf Heinrich Grimberg, die Karl-Ernst-Straße auf Karl Ernst Korte, die
Brandenbuschstraße auf Friedrich Brandenbusch, die Klüsenerstraße auf Heinrich Klüsener, oder sie leiteten sich von Lothringenerwerbungen ab (Schürbank,
Schwerin, Schürener).
Die einstige Gaststätte
Hanholz an der Heinrichstraße, heute „Six-Pack", war Vereinslokal
des SV Gerthe 11. Dieser entstand 1967 aus der Fusion der ehemaligen Fußballrivalen,
dem Arbeiterverein VfB Gerthe 1919 und dem „bürgerlichen" SuS Gerthe 11.
Der Zusammenschluss war eine Folge der Zechenschließung im Jahre 1967, da
Lothringen fortan als Sponsor ausfiel. In der Hegelstraße findet sich heute das Jugendfreizeithaus. Bis 1933
hatten sich in dieser „weltlichen Schule" (seit 1927) die sozialistische
Jugend, die Arbeiterjugend und die Falken getroffen. Rasch besetzten die Nazis
das Gebäude und nutzten es für SA, NSDAP und BDM. Den „Blutkeller", in
dem sich heute die Disco „Flash" befindet, missbrauchten sie für Verhöre
und Folterungen auch mit tödlichem Ausgang. Eine Plakette an der Fassade
erinnert an diese dunkle Zeit.
Infolge des
rasanten Bevölkerungswachstums durch die Zechenansiedlung gewann Gerthe um die
Jahrhundertwende politisch und wirtschaftlich zunehmend Bedeutung gegenüber den
angrenzenden Gemeinden. Als im Jahre 1907 noch die Eingemeindung von Hiltrop
nach Gerthe erfolgte und damit die Gemeinde Harpen übertroffen wurde, entschied
die Gemeindevertretung Gerthe im Jahre 1908 den Bau eines eigenen Amtshauses,
damals noch Gemeindehaus genannt. Das Preisgericht wählte den Entwurf des
Bremer Architekten Maehl aus. Mit der symmetrischen Anordnung der
Fassadengestaltung und den Rundbogenfenstern im Erdgeschoss, aber auch mit
seinem großzügigen Innentreppenhaus und dem repräsentativen Sitzungssaal ist
es ein Juwel der Gründerzeitarchitektur, fertiggestellt anno 1910. Besonderes
Augenmerk gilt dem Eingangsportal, das mit seinem reichen neoklassizistischen
Zierrat den Innenraumentwurf widerspiegelt. Die heute schwarz gestrichenen
schmiedeeisernen Türornamente waren ursprünglich mit Blattgold überzogen ein
Zeugnis vom damaligen Wohlstand der Gemeinde. Bezirksverwaltungsstelle Nord ihren
Sitz.
Auch nach der Eingemeindung von
Gerthe nach Bochum im Jahre 1929 behielt das Gebäude seine Funktion als
Verwaltungsgebäude. Zeitweilig waren hier das Stadtarchiv und das Museum, die
Stadtbücherei und die Polizei untergebracht. In dem denkmalgeschützten Bau
haben heute die Bezirksvertretung Bochum-Nord mit ihren Fraktionen und die
Bezirksverwaltungsstelle Nord ihren Sitz.
Kirchharpener
Straße, Friedhof, Bergehalde, Bethaus, Sigma Coatings, Zechenkolonien
Die
Kirchharpener Straße leitet ihren Namen vom alten „Kerkpad" nach Harpen
ab, als es in Gerthe noch keine Kirchen gab und die Gläubigen in die
Nachbargemeinde pilgern mussten. Ab 1905 konnten Beerdigungen auf dem neuen
kommunalen Friedhof erfolgen. An zentraler Stelle findet sich die Ruhestätte
der 114 Bergleute, die bei dem großen Grubenunglück auf Lothringen 1/2 am 8.
August 1912 bei einer Schlagwetterexplosion in 350 m Tiefe ums Leben gekommen
waren. Als Unglücksursache wurden, entgegen der offiziellen Version,
Sicherheitsmängel und unzureichende Wetterführung ausgemacht. Grüne Patina
hat das Bronzedenkmal des trauernden Kumpels überzogen, die katholischen
Bergleute wurden vom Bischof auf der rechten Seite begraben, die
protestantischen auf der linken vom Superintendenten. Kaiser Wilhelm 11. war auf
die Kunde von der Katastrophe hin mit seinem Tross von Honoratioren von Essen
hergeeilt, wo er anlässlich der 100-Jahr-Feier von Krupp zu Gast auf dem Hügel
weilte.
Ehemalige Schachtanlage Lothringen 1/2
An der
Lothringer Straße, gegenüber dem Verwaltungsgebäude 1, liegt der ehemalige
Gasthof Lothringen, bekannt auch als "Weißes
Haus". Im angrenzenden Kalthoffschen
Saal (für Parkplätze abgerissen) fanden Belegschaftsversammlungen und
Jubilarfeiern der Zeche statt, vorübergehend hatte dort auch ein Kino sein
Domizil. Im Dritten Reich diente es als sogenanntes Gefolgschaftshaus, in dem
die Fürsorge- und Freizeiteinrichtungen von Lothringen untergebracht waren. Bis
1989 war ein Teil der Räume Sitz der Verwaltung der Eschweiler Bergwerks
Vereins AG, bis heute findet sich dort noch die Polizeiwache. Im Jahre 1990
verließ mit der "Bergwerkskapelle Erin" auch die letzte
Zechenerinnerung das Haus. Bis dato hatten die Knappen hier ihre Probenstätte
gehabt. Heute gehört das Traditionsorchester mit seinen schwarzen
Knappenkitteln ins Bild der jährlich wiederkehrenden Gerther Festlichkeiten wie
Seilscheibenfest und Barbarafeier.
Im Jahre 1872 war die Abteufung von Schacht 1 erfolgt, nachdem erste Kohlenförderungen
bereits um 1850 auf den Grubenfeldern Sanssouci und Sadowa erfolgreich gewesen
waren. Die „Gewerkschaft der Zeche Lothringen“ in patriotischer Erinnerung
an den deutsch‑französischen Krieg von 1870/71 war sodann der
Zusammenschluss der Gewerken Fritz Funke, Heinrich Grimberg, Wilhelm Schürenberg
und Friedrich Wilhelm Waldhausen. Hinzu kamen die Schächte 2, 3 und 6 in Gerthe
und in Hiltrop 4 und 5. Am 28. April 1967 stellte die Zeche mit noch rund 3000
Beschäftigten die Förderung ein und wurde vom EBV übernommen.
Zum
Restensemble der heute noch erhaltenen Industriearchitektur von Lothringen 1/2
gehören das Verwaltungsgebäude 1, zur
Zeit noch Sitz der Bundesknappschaft, das Fördermaschinenhaus
1, im Jahre 1907 mit Merkmalen des Historismus und des Jugendstil erbaut und
vom Landschaftsverband Westfalen/Lippe unter Denkmalschutz gestellt, das Verwaltungsgebäude
2, früher mit Praxis des Werksarztes, der Markscheiderei und
Holerithabteilung, derzeit u. a. vom Zentrum für Tanz und Bewegung und bis 1998
von der Verwaltung des Kalksandsteinwerkes genutzt, das Magazingebäude,
Sitz des vom Bochumer Kulturrat e.V. betriebenen"KULTUR‑MAGAZINS
LOTHRINGEN" sowie die Doppelhalle des Maschinenhauses von Schacht 1.
Schacht
6 existiert noch als Entlüftungsschacht, der von der RAG gewartet wird. Außerdem
sind als Erinnerung an die Bergwerksvergangenheit noch die Haspelkammer unter
dem Treppenturm zum Kultur-Magazin erhalten wie auch das Spritzenhaus. Hier
waren einst, nach dem Grubenunglück von 1912, die Särge der geborgenen
Bergleute aufgereiht, seit etlichen Jahren hat der Archäologe und Bildhauer Dr.
Heinrich Schroeteler hier sein Atelier eingerichtet. Die Nachbildungen der berühmten
Polyphem-Gruppe aus der Höhle von Sperlonga und der Skylla-Gruppe aus der Villa Hadriana, aber auch die Büsten
der RUB-Rektoren oder von Dr. Arnold Kortum sind u.a. hier bearbeitet worden.
Zur Zeit werden auf dem ehemaligen Lothringen-Gelände Erdarbeiten zur Sanierung und
Rekultivierung belasteteter Flächen durchgeführt. Mit Landesmitteln konnte
bereits das KULTUR-MAGAZIN LOTHRINGEN restauriert werden, so dass der Bochumer
Kulturrat e.V. als Betreiber dieses soziokulturellen Zentrums im Bochumer Norden
Arbeits- und Produktionsräume für insgesamt 15 freie Künstlergruppen zur Verfügung
stellen konnte. Neben den vielfältigen Kulturangeboten dieser Kulturschaffenden
organisiert der Kulturrat ein breites Spektrum an Kulturaktivitäten, darunter
Ausstellungen in der Galerie in der Zeche. Auf der Zechenbrache entsteht
gleichfalls mit Landesförderung der „Wohn- und Gewerbepark
Lothringen". Ein lebendiges Modell des Strukturwandels inklusiv dem
„weichen Standortfaktor Kultur kann hier vor Ort erlebt werden. Das einstige
Symbol von Gerthe, die drei roten Schornsteine des Maschinenhauses von Schacht 1
(1954 gesprengt), erhalten auf einer Aufschüttung am nordöstlichen Rand des
Terrains ihre Wiederbelebung: „die drei großen Herren" als Zitate der
einstigen Zechenkulisse und Bergbautradition, funktional errichtet als Lüftungsschächte
in künstlerischer Gestaltung.
Die Lothringer Straße, heute teilweise Fußgängerzone, war immer die Schlagader von Gerthe. Hierher zogen die Kumpel zur Schicht, und manche Kneipe erlebte freitags den ssLohntütenball". Gegenüber dem repräsentativen Zecheneingangstor befanden sich die alten Villen der Bergwerksdirektoren, von denen einige in den 70er Jahren einer neuen Bebauung weichen mussten. Bis 1938 war eine Reihe von Geschäften im Besitz jüdischer Eigentümer, so etwa das Kaufhaus Fröhlich an der Ecke Lothringer/ Hegelstraße. Augenzeugen erinnern sich an das Geschehen in der Reichskristallnacht und an andere Schmähaktionen gegen die jüdischen Einwohner. Heute säumen Geschäfte gemischter Branchen diese Haupteinkaufszeile. Zeugen des Bergbauzeitalters sind noch die Barbara-Apotheke, benannt nach der Schutzheiligen der Bergleute, und die Glückauf Apotheke am Kreuzungsbereich Castroper Hellweg / Hiltroper Landwehr, die übrigens den höchsten Punkt von Gerthe markiert, was schon Pastor Leich zu dem Spruch veranlasste: „Gerthe liegt auf der Höhe, Gerthe ist auf der Höhe!"
Die evangelische Kirchengemeinde wurde 1906 als Tochtergemeinde von Harpen und Castrop gegründet. Von der Zeche Lothringen erhielt sie auf Initiative des technischen Direktors Otto Gehres Starthilfe für den Bau der Christuskirche durch Stiftung des Grundstückes. Die Baupläne stammten von Regierungsbaurat Siebold aus Bielefeld und dem Architekten Hegemann. Fertiggestellt 1910, ist sie mit ihrem 44 m hohen Turm ein Kleinod des Jugendstils. Fassaden und Innenraum weisen reiche Ornamentik auf, die die klare Gliederung des Kirchenraums unterstützt. Chorempore, Kassettendecke, Fenster, Beleuchtungskörper, Pfeiler, Taufbecken, Predigtstuhl, Altar und Wandfresko bilden ein harmonisches Ensemble, in das sich die aus Carraramarmor gefertigte Skulptur"Flamme des heiligen Geistes" von Dr. Heinrich Schroeteler sinnvoll einfügt. Die angrenzenden Gebäude, das Pfarrhaus mit Kindergarten und das Gemeindehaus Bethanien, gehörten vormals ebenfalls zu den Lothringen-Residenzen und gelangten durch Stiftungen an die Christusgemeinde. Die Kirche die beim Pfingstangriff 1943 wie etliche Gebäude in Bochum beschädigt wurde, steht unter Denkmalschutz.
Die katholische St. Elisabethkirche gründet sich auf Zechenkapital. 1896 war man der stark angewachsenen katholischen Gemeinde infolge der Zuwanderung von Bergleuten aus Europas Osten und Süden durch einen Kirchenbau auf dem Marktplatz gerecht geworden. Als diese erste St. Elisabethkirche zu klein wurde, erwarb die Gemeinde mit Unterstützung der Zeche 1911 das Grundstück an der Hiltroper Landwehr. Pfarrer Wilhelm Sondermann fand in J.F. Klomp aus Dortmund einen namhaften Architekten, der entgegen dem üblichen neugotischen Baustil einen neoromanischen Entwurf aus dauerhaftem Ruhrsandstein schuf. Fensterumrandungen und Säulen, Reliefs und Figuren aus Tuffstein assoziieren mittelalterliche Baukunst. An der Konstruktion des markanten Turms von 56 m Höhe, der als Wahrzeichen des Stadtteils bereits von weitem wahrgenommen werden kann, waren vorwiegend Maurer und Steinmetze aus Italien beteiligt. Im Kircheninnern fügen sich modernere Stile harmonisch in das Gesamtbild ein, etwa die farbigen Fenster von Egbert Lammers, Figuren von Bernhard Vielstätte und Dr. Heinrich Schroeteler, der renovierte Altarraum von Leo Janischowski oder auch die neue Orgel der Firma Speith aus Rietberg mit 42 Registern. Mit der St. Elisabethkirche kann Gerthe das vierte denkmalgeschützte Gebäude aufweisen.
Als Zentrum des öffentlichen Lebens im Stadtteil ist der Gerther Markt von Wohn- und Geschäftshäusern umschlossen. Die Aufteilung in einen gepflasterten Teil mit Kiosk und eine Rasenzone erlaubt eine vielseitige Nutzung für Wochenmarkt und festliche Aktivitäten wie Handwerkermarkt, Seilscheibenfest und Stadtteilfeste. Im östlich gelegenen Rasenbereich findet sich seit 1984 in Erinnerung an die Zechenvergangenheit eine Seilscheibe der benachbarten Zeche Erin in Castrop. In Ergänzung hierzu wurde 1994 in Kooperation zwischen dem Bochumer Kulturrat und dem SPD-Ortsverein ein Grubenwagen aufgestellt, der mit Hilfe der Feuerwehr aus dem Tiefgewölbe des Lothringer Maschinenhauses geborgen wurde. Zur Zeit wird eine Anbindung des Marktplatzes an die „Neue Mitte Gerthe", den Wohn- und Gewerbepark Lothringen, über die Bethanienstraße durch attraktive Wegeführung gestaltet.